Ludwik Fleck
An dieser Stelle soll es wieder eine kurze Einschätzung (das Wort Rezension erschiene mir doch übertrieben) eines Buches zur Wissenschaftstheorie geben, nämlich von Ludwik Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache.
Dieses bereits 1935 erschienene Buch des polnisch-jüdischen Mediziners Fleck dürfte inzwischen vielen an Wissenschaftstheorie Interessierten bekannt sein -- ganz im Gegensatz zu Flecks Zeitgenossen. Die Rezeption nach der Veröffentlichung in Basel kann wohl am besten als "nicht vorhanden" charakterisiert werde und fand einen Aufschwung erst durch Thomas S. Kuhn, der in "The Structure of Scientific Revolutions" (1962) Fleck als einen wichtigen Einfluss aufführte. Wer Kuhns Thesen zur Entwicklung von Wissenschaft kennt, dem ist dieser Einfluss schnell offensichtlich -- die zentralen Konzepte von Fleck, Denkstil und Denkkollektiv, ähneln der Kuhn'schen scientific community und den paradigms sehr.
Ausgehend von einer historischen Betrachtung der Entstehung der modernen Vorstellung von Syphilis, zeigt Fleck sehr schön auf, warum Wissenschaft nicht adäquat als ein Prozess beschrieben werden kann, der ausschließlich von rationalen Kriterien bestimmt ist oder einer stringenten Entwicklungslinie folgt; Wissenschaft (und nicht nur diese! Fleck betrachtet seine Konzepte als allgemein soziologische Kategorien, die auch auf andere Denkkollektive wie etwa religiöse Gemeinschaften angewandt werden kann) ist in verschiedene gesellschaftliche Kontexte eingebettet, vor allem aber spielen auch strukturelle Regeln und Begrenzungen innerhalb der wissenschaftlichen Produktion (also die Denkstile) eine höchst signifikante Rolle.
Ich will auf die Inhalte an dieser Stelle nicht weiter eingehend und verweise stattdessen auf die ausführliche Zusammenfassung in der Einführung in die deutsche Ausgabe.
Insgesamt kann ich das Buch all denjenigen empfehlen, die sich dafür interessieren, wie sich die moderne Wissenssoziologie und Wissenschaftstheorie entwickelt hat. Wenngleich einem viele Hypothesen etwas überholt erscheinen mögen, ist immer wieder erstaunlich, welch modern anmutenden Konzepte Fleck bereits zu einem so frühen Zeitpunkt formuliert hat. Auch jenseits dessen ist die Lektüre des Buches durch Flecks schönen Stil mit einer Vielzahl an wohlklingenden Neologismen und Metaphern sehr angenehm: so spricht er vom "denkkollektiven Widerstandsaviso", dem "denkzwingenden Charakter des Denkkollektivs" oder von der "intrakollektiven Gedankenwanderung". Was den Lesegenuss deutlich trübt, ist die große Redundanz im Empirischen. Wie Schäfer und Schnelle in ihrer Einleitung bemerken, macht das Buch den Eindruck, recht hastig niedergeschrieben zu sein, was sich nicht zuletzt in seitenlangen Beschreibungen wissenschaftlicher Sachverhalte oder übertrieben langen Zitaten zeigt. Wenn man diese Teile aber überliest und sich auf die theoretischen Teile konzentriert, bleibt ein großer Gewinn: wer die Genese moderner Wissenschaftstheorie verstehen will, die oder der kommt nicht an Fleck vorbei.
Ludwik Fleck (1935/1980). Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
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