Sandra Harding: Can women ever become modern?
Eine seit vielen Jahre führende Vertreterin von feministischer und postkolonialer Wissenschaftsphilosophie ist Sandra Harding. Die Autorin von Büchern wie "The Science Question in Feminism", "Whose Science, whose Knowledge?" und "Is Science Multicultural?" hielt am 10. Juli eine öffentliche Vorlesung an der TU Berlin. (Ankündigungstext)
Die den Vortrag leitende Frage war, ob "Frauen jemals modern werden können?" Die übliche Antwort, dass westliche Frauen schon lange in der Moderne angekommen seien und es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sich alle Frauen sozusagen modernisiert hätten, ließ Harding nicht gelten. Bevor sie jedoch ihre vier Argumente gegen diese Antwort vorbrachte, machte sie einige allgemeinere Bemerkungen zur Fragestellung selbst.
Vor allem die Definition von "modern" oder "Moderne" ist für Harding ein ungelöstes Problem. Unter Verweis auf eine Sonderausgabe der Zeitschrift Daedalus [1] vertrat Harding die These, dass es die Moderne nicht gäbe, sondern man stattdessen von "Multiple Modernities" sprechen müsse. Moderne lässt sich entweder zeitlich oder über ihre Substanz definieren. Die erstere Möglichkeit führt dazu, dass unterschiedliche Disziplinen und unterschiedliche Sprachgruppen jeweils verschiedene Periodisierungen vornehmen. In Philsophie und (Natur-)Wissenschaft etwa liegt die Grenze zwischen Vormoderne und Moderne im 15. und 16. Jahrhundert, also der Zeit von Descartes, Boyle und Bacon, die einen Bruch mit den Traditionen des "dunklen Mittelalters" ermöglicht hätten. In den Sozialwissenschaften hingegen fällt die Grenze mit der Urbanisierung und der zweiten industriellen Revolution im 18. und 19. Jahrhundert gezogen. In Kunst, Literatur und Ästhetik schließlich beginnt die Moderne erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert (und, so sollte man ergänzen, ist auch schon seit einiger Zeit wieder passé). Aus diesem Befund und der Tatsache, dass etwa im Französichen die genannten Grenzen noch einmal anders gezogen werden, leitete Harding ab, dass der shared core der Definition von Moderne klein sei und im Wesentlichen aus der Figur des Großen Bruchs mit der Vergangenheit bestünde. Inhaltlich geht es um eine Orientierung auf die Zukunft hin, universelle Vernunft, die Ablösung der gesellschaftlichen Institutionen von der Familie, ein Verschwinden der als negativ bewerteten Tradition und der Festellung, dass es nur eine Moderne, und zwar die des Westens gebe.
Jenseits der definitorischen Schwierigkeiten stellen sich für Harding vier inhaltliche Einwände gegen die Moderne.
Erstens fragt sie, vom wem die traditionelle Arbeit in modernen Gesellschaften geleistet werde. Damit verweist sie auf eine verhältnismäßig machtvolle Stellung von Frauen innerhalb des Haushaltes in vormodernen Gesellschaften. Durch die oben erwähnte Ablösung von gesellschaftlichen Institutionen von denen der Familie und damit auch der physischen Abtrennung der Arbeit im Haushalt wird die Position der Frau in der Gesellschaft geschwächt. Funktionierende Haushalte sind die Vorbedingung der Existenz moderner Gesellschaften, was aber von diesen, etwa durch den Staat oder die Ökonomie, nicht anerkannt wird. Mit "Vorbedingung" meint Harding nicht allein, dass in den Haushalten im Marx'schen Sinne unbezahlte Reproduktionsarbeit geleistet wird, sondern der Haushalt ermöglicht moderne Gesellschaft in einem weiteren Sinne: Da "Moderne" in erster Linie eine Anhäufung abstrakter Ideen sei, wäre es notwendig, diese in die materielle Umwelt "einzunähen", sie zu übersetzen -- und dies geschehe zu einem beträchtlichen Teil im Haushalt über die dort geleistete traditionelle "craft labor".
Der zweite Einwand betrifft das Entwicklungsnarrativ der Modernen: Um modern zu werden, mussten sie "das Weibliche und das Wilde/Primitive/Nicht-Westliche" mittels wissenschaftlicher Rationalität und technischer Expertise überwinden und alle Verbindungen mit diesem kappen. In einem zivilisatorischen Evolutionsnarrativ erscheinen Frauen und Nicht-Westliche als noch in der Kindheit der Spezies Verbliebene, und vorhandene Machthierarchien von "male supremacy and European supremacy" leben ineinander verschlungen fort.
Der dritte Einwand Harding richtet sich gegen die Behauptung, dass die Moderne die Tradition ersetzt. Dem stellt sie die These entgegen, dass die Moderne vielmehr selektiv bestimmte Elemente der Tradition aufrecht erhält, wiederbelebt, umgestaltet. Dies kann einerseits durch den bereits angedeuteten Vorgang des Othering sein, in dem die Tradition als Negativfolie oder Drohkulisse dient; es kann aber auch konkreter die im ersten Einwand angesprochene Beibehaltung vormoderner Strukturen im Haushalt oder der Ökonomie (Sweat shop economies, Haushaltsarbeit, Baugewerbe, Pflege etc.) sein.
Der vierte und letzte Einwand schließlich beruht wieder auf der Multiplizität von Moderne. Die Modernen verstehen sich selbst in exzeptionalistischen und triumphalistische Begriffen: "We are the only ones who managed to become modern. We owe nothing to traditional societies. And if something has gone wrong, it's not the fault of modern society or science itself but, for example, bad politics abusing neutral science and technology." Diese Sichtweise lässt sich laut Harding zum einen aus (wissenschafts-)geschichtlicher Perspektive, die sich auf Vorläuferinnen und Kontinuitäten zwischen Vormoderne und Moderne konzentriert, kritisieren. Zum zweiten vernachlässigt der Exzeptionalismus, der nur die eine Moderne des Westens sieht, die Tatsache, dass alle Gesellschaften auf die eine oder andere Weise modern geworden sind, indem sie auf spezifische Weise die Ideen der Moderne in spezifische Kontexte "eingenäht" haben -- etwa die Verbindung von Hindu-Nationalismus und Modernisierung im dekolonialisierten Indien. "No society can escape modernity."
Was sind nun Hardings Schlussfolgerungen aus all dem? Trotz ihrer Kritik an den Modernen und ihrer Sicht auf sich selbst, betont sie, dass die Dichotomie von Tradition und Moderne die Welt weiterhin zu einem großen Maß strukturiert. Auch und gerade die Natur- wie Sozialwissenschaften fußen auf eben dieser Trennung und seien deswegen im Kampf für nicht-moderne Verhältnisse problematische Bündnispartnerinnen. Soziale Transformation könne nur das Resultat eines gemeinsamen Projekts von Feminismus und Postkolonialismus sein. Die leitende Frage sollte dabei dann nicht sein, ob Frauen je modern werden können, sondern wie eine Moderne aussehen würde, wenn sie vom Standpunkt von Frauen aus aller Welt und allen Schichten gestaltet werden würde. Mögliche Antwortden auf diese Frage ließ Harding -- leider -- offen.
Ich will zum Abschluss zwei Kritikpunkte an Hardings Argumentation anbringen. Wie sie selbst mehrere Male betonte, ist Harding in erster Linie Philosophin und keine Sozialwissenschaftlerin. Dies (so vermute ich jedenfalls) führte dazu, dass ihre Kritik auf einer global-abstrakten Ebene angesiedelt war, die einerseits wenig Neues brachte und andererseits in ihrer Allgemeinheit auch schwer kritisierbar ist. Gerade angesichts der Tatsache, dass sie sowohl die Definition von Moderne als auch deren Selbstsicht als etwas Homogenes kritisierte, erschien ihr eigenes Reden über die Moderne als seltsam vereinheitlichend. Aussagen wie "Die (westliche) Moderne ist ...", "Die (westliche) Moderne beruht auf ..." sind zu allgemein und lassen zudem die Frage nach Verantwortlichkeit und Handlungsmächtigkeit/Agency offen.
Ein weiterer problematischer Punkt ist Hardings zumindest auf den ersten Blick so erscheinende unkritische Bewertung des Vor-, oder besser: Nicht-Modernen. In der anschließenden Diskussion fragte eine Zuhörerin etwa nach der unbestreitbar vorhandenen Gewalt im von Harding als Raum des weiblichen Einflusses gepriesenen Haushalt. Harding unterstützte diese Sichtweise; aber dennoch ließ ihre Antwort unklar, inwieweit ihr Argument sich auf reale historische, gegenwärtige oder utopische Haushalte bezieht.
Vielleicht lassen sich ja die Antworten auf diese Fragen und Kritikpunkte in Hardings neuem Buch, "Sciences from Below: Feminisms, Postcolonialities, and Modernities: Feminisms, Postcolonialisms, and Modernities", finden.
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[1] Die Ausgabe selbst ist online nicht verfügbar, wurde aber später als Buch herausgegeben.
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